Frauen war es erst 1908 gesetzlich erlaubt, in einen Verein oder eine Partei einzutreten. Marie Juchacz (1879-1956) trat sofort in die SPD ein. Unmittelbar nach der Arbeiterrevolution im November 1918 und nachdem der Sozialdemokrat Friedrich Ebert Reichskanzler wurde, führt die neue Regierung am 12. November das Frauenwahlrecht ein. Marie Juchacz war eine versierte politische Kämpferin und emanzipierte Frau. Sie wurde als eine von insgesamt 37 Frauen in die Weimarer Nationalversammlung hineingewählt. Am 19. Februar 1919 ergriff sie als erste Frau am Rednerpult der Weimarer Nationalversammlung das Wort.
Am 13. Dezember 1919 brachte sie als Frauensekretärin der SPD einen Vorschlag im Parteiausschuss der SPD ein: „Ich habe Ihnen heute auch einen neuen Organisationsvorschlag zu machen. Nun geht mein Vorschlag mit Billigung des Parteivorstandes dahin, dass wir innerhalb der Parteiorganisation eine sozialdemokratische Wohlfahrtspflege konstituieren. Ich schlage vor, dass wir zunächst eine Zentralinstanz schaffen, einen Ausschuss, und dass wir dann im Rahmen unserer Bezirke Landes- und örtliche Organisationen, Wohlfahrtsausschüsse, bilden.“ Das Gremium beschloss die Gründung eines „Hauptausschusses für Arbeiterwohlfahrt in der SPD“. Marie Juchacz wurde mit der Leitung des Ausschusses beauftragt. Sie kann also zu Recht als erste AWO-Vorsitzende bezeichnet werden. Neben ihr gehörten u.a. Elfriede Ryneck als ihre Stellvertreterin, Lore Agnes, Walter Friedländer, Louise Schroeder und Hedwig Wachenheim zu den Gründungsmitgliedern. Reichspräsident Friedrich Ebert beschrieb den Zweck der neuen SPD-Organisation so: „Arbeiterwohlfahrt ist die Selbsthilfe der Arbeiterschaft“. So sollten die Arbeiter von der staatlichen Armenpflege, Stiftungen und Kirchen unabhängig werden.
Zunächst versuchte die AWO, vor allem die Not der durch den Ersten Weltkrieg Geschädigten zu lindern. Sie richtete Nähstuben, Mittagstische, Werkstätten zur Selbsthilfe und Beratungsstellen ein. Am 25.04.1925 wird der „Hauptausschuss für Arbeiterwohlfahrt“ beim Amtsgericht Berlin als Verein eingetragen. Ab dem 01.10.1926 wird die Zeitschrift „Arbeiterwohlfahrt“ herausgegeben, die zweimal monatlich in einer Auflage von 10.000 erscheint. Die AWO entwickelt sich immer mehr zu einer Hilfsorganisation für alle sozial bedürftigen Menschen. Die Weltwirtschaftskrise 1928 und die instabilen Verhältnisse in der Weimarer Demokratie machten die AWO unentbehrlich. Über 20 Millionen Menschen in Deutschland waren auf Hilfen der Wohlfahrtspflege angewiesen.
Noch kurz vor der Feier aus Anlass des 10jährigen Bestehens der Arbeiterwohlfahrt schloss die Arbeiterwohlfahrt mit dem “Gesamtverband der Arbeitnehmer der öffentlichen Betriebe und des Personen- und Warenverkehrs” und dem “Zentralverband der Angestellten” am 06.02.1930 den ersten Tarifvertrag der AWO ab, den “Manteltarifvertrag für die Arbeiter und Angestellten in den Heimen und Unternehmungen der Arbeiterwohlfahrt”.
Der Tarifvertrag der AWO von 1930 war der fortschrittlichste seiner Zeit, auch wenn seine Inhalte aus heutiger Sicht eher schmächtig und urig wirken sollten.
Zum aufkommenden Faschismus nimmt die Arbeiterwohlfahrt einen klaren Standpunkt ein: keine Zusammenarbeit mit Nationalsozialisten. So schreibt die Geschäftsführerin der Arbeiterwohlfahrt, Lotte Lemke, in der Zeitschrift „Arbeiterwohlfahrt“ im September 1932 zur 2. Winterhilfe-Aktion: „Während der Hauptausschuss in allen Fällen die Entscheidung über Beteiligung oder Nichtbeteiligung völlig in die Hände der Bezirks- und Ortsausschüsse verlegt, so hat er sich doch in einem Falle entschlossen, die Unterorganisationen zu binden. Dieser Fall betrifft die Frage einer Beteiligung der Nationalsozialisten an der Winterhilfe. Wo dieser Fall praktisch wird, da kann es für die Arbeiterwohlfahrt nur ein Fernbleiben geben; wir müssen es ablehnen, mit einer Organisation, die durch Mordterror unendliches Elend über zahllose Arbeiterfamilien gebracht hat, uns an einen Tisch zu setzen.“
Wenige Wochen nach der Machtübertragung an Adolf Hitler sollte die AWO gleichgeschaltet werden. Doch dem Versuch, die Arbeiterwohlfahrt in die nationalsozialistische Volkswohlfahrt zu überführen, entziehen sich allerorten ihre Mitglieder, Helfer und Funktionäre. Daraufhin wird sie zwangsweise aufgelöst und verboten. Ihr gesamtes Vermögen, ihre Immobilien und alle Einrichtungen werden für die „Nationalsozialistische Wohlfahrt (NSV)“ beschlagnahmt. Ihre Zeitschrift „Arbeiterwohlfahrt“ erscheint am 15. Juli 1933 mit dem Hakenkreuz. Zahlreiche Mitglieder wurden verhaftet und kamen ins Gefängnis oder ins Konzentrationslager. Führende Frauen und Männer werden verfolgt, von denen viele sich zur Flucht ins Ausland gezwungen sehen. Etliche Mitglieder arbeiteten illegal weiter und halfen, bedrohte Personen aus der Arbeiterbewegung ins Exil zu schleusen. Marie Juchacz, die noch bis zur nationalsozialistischen Machtergreifung Reichstagsabgeordnete und Vorsitzende der AWO geblieben war, emigrierte zunächst ins Saarland, dann nach Elsass und später nach Marseille in Frankreich. Im Frühjahr 1941 wird sie in die USA gebracht.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde die Arbeiterwohlfahrt am 03./04. Januar 1946 in Hannover für die westlichen Besatzungszonen wieder gegründet. Als parteipolitisch und konfessionell unabhängige Hilfsorganisation wechselte die Arbeiterwohlfahrt von einer Vereinigung innerhalb der SPD zu einem selbständigen Verband. Die Arbeiterwohlfahrt nahm den Kampf gegen die Not der Nachkriegszeit auf. Am 12.07.1948 wird der „Hauptausschuss der Arbeiterwohlfahrt“ in das Vereinsregister beim Amtsgericht Hannover eingetragen.
In der sowjetischen Besatzungszone hatte sich unter kommunistischer Führung die „Volkssolidarität“ gebildet, wodurch eine Neubildung der Arbeiterwohlfahrt unmöglich geworden war.
Am 02. Februar 1949 kehrte Marie Juchacz aus Amerika nach Deutschland zurück. Dort hatte sie über die Arbeiterwohlfahrt New York der westdeutschen Arbeiterwohlfahrt mehrere Jahre lang Hilfsgüter sowie materielle und politische Unterstützung zukommen lassen.
1953 erklärte Lotte Lemke, damalige stellv. AWO-Vorsitzende, auf der Berliner AWO-Reichskonferenz: „Heute ist aus der Arbeiterwohlfahrt der Weimarer Zeit eine Wohlfahrtsorganisation geworden, deren Aktionsradius weit über den Kreis der zur Arbeiterschaft rechnenden Bevölkerung hinausgreift“.
Am 02. November 1954 schließt die AWO mit der „Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr (ÖTV)“ den 1. „Bundesmanteltarifvertrag für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer der Arbeiterwohlfahrt“ ab. 1959 hatte die AWO 353 Heime und 250 Kindergärten mit 4.000 hauptberuflich Beschäftigten und über 70.000 Helfer*innen.
23 Jahre später wird dieser durch den 2. Bundesmanteltarifvertrag für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer der Arbeiterwohlfahrt ersetzt.