Am 09.02.2021 hatten die Gewerkschaft ver.di und die „Bundesvereinigung der Arbeitgeber in der Pflegebranche (BVAP)“ den „Tarifvertrag Mindestbedingungen in der stationären, teilstationären und ambulanten Alten- und Krankenpflege“ unterzeichnet. Dem BVAP gehören die Arbeiterwohlfahrt, der Arbeitersamariterbund, die Volkssolidarität und der Diakonische Dienstgeberverband Niedersachsens an. Dreijährige Gespräche und Verhandlungen lagen da schon hinter den Unterzeichner*innen. Der Altenpflege-Tarifvertrag, sollte vom Bundesarbeitsminister Hubert Heil nach dem Arbeitnehmerentsendegesetz auf die gesamte Altenpflegebranche Deutschlands erstreckt werden. Die zahlreichen Versprechen der Bundesregierung und das Klatschen der Öffentlichkeit ließen hoffen, dass dies gelingt und keine Pflegekraft mehr zum Arbeitsamt rennen muss, um ihr Gehalt aufstocken lassen oder im Rentenalter die Grundsicherung beantragen zu müssen.
Aber die Pflegekräfte sind erneut tief enttäuscht worden. Eine Einkommensverbesserung durch den Altenpflege-Tarifvertrag ist in weite Ferne gerückt. Verursacht wurde dies durch die ablehnende bzw. skeptische Haltung der kirchlichen Einrichtungsträger, Caritas und Diakonie. Sie gehören derzeit noch zu den größten Dienstleistern in der Altenpflegebranche. Deren Zustimmung war zwingende Voraussetzung für eine Erstreckung auf die gesamte Altenpflegebranche in Deutschland. Mit dem Gesetz für bessere Löhne in der Pflege (Pflegelöhneverbesserungsgesetz), das am 29. November 2019 in Kraft getreten war, hatte die Bundesregierung die rechtlichen Grundlagen dafür im Arbeitnehmer-Entsendegesetz (AEntG) geschaffen.
Vielerorts erhalten die Pflegekräfte gerade einmal nur den gesetzlichen Pflegemindestlohn, weil für sie bisher kein Tarifvertrag gilt. Für einen sehr großen Teil der Pflegekräfte hätte der bundesweit geltende Tarifvertrag, der zum 01.08.2021 in Kraft treten sollte, erhebliche Einkommensverbesserungen zur Folge gehabt:
- Für Pflegekräfte ohne mindestens einjährige Ausbildung hätte der Altenpflege-Tarifvertrag 12,40 € betragen. Der Pflegemindestlohn würde dann bei 11,80 € liegen.
Bis zum 01.01.2023 sah der Altenpflege-Tarifvertrag kontinuierliche Erhöhung auf dann 14,15 € vor. Der Pflegemindestlohn wäre bis dahin gerade mal auf 12,55 € gestiegen. - Für Pflegekräfte mit mindestens einjähriger Ausbildung hätte der Altenpflege-Tarifvertrag 13,10 € betragen. Der Pflegemindestlohn würde dann bei 12,50 € liegen.
Bis zum 01.01.2023 sah der Altenpflege-Tarifvertrag kontinuierliche Erhöhung auf dann 15,00 € vor. Der Pflegemindestlohn wäre bis dahin gerade mal auf 13,20 € hochgeklettert. - Für Pflegefachkräfte mit einer dreijährigen Ausbildung hätte der Altenpflege-Tarifvertrag 16,10 € betragen. Der Pflegemindestlohn würde dann bei 15,00 € liegen.
Bis zum 01.01.2023 sah der Altenpflege-Tarifvertrag kontinuierliche Erhöhung auf dann 18,50 € vor. Der Pflegemindestlohn wäre bis dahin gerade mal auf 15,40 € angestiegen.
Daneben sah der bundesweite Altenpflege-Tarifvertrag im Unterschied zur 4. Pflegearbeitsbedingungenverordnung zwei Urlaubstage mehr plus 500 € Urlaubsgeld vor.
Keinerlei Auswirkungen hätte der Altenpflege-Tarifvertrag auf die Beschäftigten in Unternehmen gehabt, für die ein Tarifvertrag gilt. Denn der Altenpflege-Tarifvertrag hätte im Falle einer günstigeren Regelung keine Absenkung zugelassen. Im Folgenden werden beispielhaft die Stundenentgelte für neueingestellte Beschäftigte bei der AWO in NRW vom Januar dieses Jahres mit den Mindestentgelten, wie sie der bundesweite Altenpflege-Tarifvertrag ab August vorgesehen hätte, verglichen:
- Für Pflegekräfte ohne mindestens einjährige Ausbildung zahlte die AWO 13,11 €. Der Altenpflege-Tarifvertrag hatte 12,40 € vorgesehen.
- Für Pflegekräfte mit mindestens einjähriger Ausbildung zahlte die AWO 13,75 €. Der Altenpflege-Tarifvertrag sah 13,10 € vor.
- Für Pflegefachkräfte mit einer dreijährigen Ausbildung zahlte die AWO 16,75 €. Der Altenpflege-Tarifvertrag sah 16,10 € vor.
Hierbei ist jedoch zu berücksichtigen, dass die Differenz im August 2021 zugunsten der Beschäftigten der AWO in NRW noch höher ausfallen wird, da derzeit eine Tariferhöhung ab 01.02.2021 verhandelt wird.
An den Verhandlungen für einen bundesweiten Altenpflege-Tarifvertrag haben die kirchlichen „Dienstgeber“ selbst nicht teilgenommen, da sie vor dem Hintergrund der grundgesetzlichen Schutzgarantie für die Kirchen keine direkten Tarifverhandlungen mit den Gewerkschaften führen. Sie nutzen den sogenannten 3. Weg, bei dem lediglich „Dienstgeber“ und „Dienstnehmer“ statt Arbeitgeber und Gewerkschaften miteinander verhandeln. Deshalb haben die Bundestarifkommissionen der Gewerkschaft ver.di und des BVAP mit den kirchlichen Unternehmensträger der Caritas und der Diakonie eine „Anhörung“ durchgeführt. Problematisch daran ist jedoch, dass die kirchlichen Träger nur noch im Nachhinein Einfluss auf die vorgegebenen Inhalte des Altenpflege-Tarifvertrages nehmen konnten. Das bietet ihnen die Möglichkeit, am ausgehandelten Tarifvertrag rumzumäkeln und sich am Ende mit scheinheiligen Argumenten aus der Verantwortung zu stehlen. Genau das ist geschehen. Während die Caritas den Altenpflege-Tarifvertrag mit fadenscheinigen Argumenten per Beschluss abgelehnt hat, hat sich die Diakonie mit Verweis auf die Ablehnung der Caritas billig aus der Affäre gezogen. Dadurch ist offensichtlich geworden, dass der sog. 3. Weg der Kirchen, der dem ebenfalls grundgesetzlich geschützten Koalitions- und Streikrecht der Beschäftigten in kirchlichen Einrichtungen im Wege steht, nicht mehr in die heutige Zeit passt.
Es zeigt aber auch, dass es noch zu wenige Beschäftigte in der Altenpflege sind, die sich in der Gewerkschaft ver.di zusammenschließen. Einerseits nimmt der Anteil der privaten Anbieter von ambulanten und stationären Pflegedienstleistungen stark zu. Denn vor allem private Pflegeunternehmen bezahlen aus reinen Profitgründen den Pflegekräften weitaus weniger Lohn, als dies z.B. bei den Kommunen oder großen Teilen der Wohlfahrtsverbände üblich ist. In den östlichen Bundesländern gibt es aber auch Beschäftige in kirchlichen Einrichtungen, die weniger verdienen, als dies der Altenpflege-Tarifvertrag vorsah. Andererseits existiert in diesen Betrieben in der Regel keine betriebliche oder gewerkschaftliche Vertretung. Dabei wächst die Unzufriedenheit von Beschäftigten in Altenpflegeeinrichtungen, weil zu der schlechteren Bezahlung auch noch eine katastrophale personelle Situation hinzukommt. Häufig versuchen Einrichtungsträger, aktive Beschäftigte, die in solchen Einrichtungen eine betriebliche Interessensvertretung schaffen wollen, durch massives Mobbing aus dem Betrieb zu drängen und verbreiten so Angst und Bange in den Belegschaften. Auch aus Einrichtungen von Wohlfahrtsverbänden gibt es schon mal Berichte über solche Vorfälle. Die Belegschaften in den Altenpflegeeinrichtungen verfügen kaum über Erfahrungen aus Kämpfen zur Durchsetzung eines Tarifvertrages. Dementsprechend fehlt es an einem ausreichenden Durchsetzungspotential in der Altenpflege.
Jetzt tragen Caritas und Diakonie die Verantwortung dafür, dass auch weiterhin der Wettbewerb zwischen den Trägern von Altenpflegeeinrichtungen um die niedrigsten Entgelte für Pflegekräfte statt um die beste Pflegequalität geführt wird. Das geht letztendlich zu Lasten der Menschen, die in solchen Einrichtungen gepflegt und versorgt werden.